Lieber Papa...

Lieber Papa.

Nun sitze ich hier in unserer schon fast leer geräumten Küche in unserem schon fast leer geräumten Haus.

Ich muss erst einmal meine Gedanken ordnen.

Weißt du, was ich beim zusammenräumen deiner Sachen gefunden habe?

Mamas alte Spieldose. Die Violette mit den goldenen Verzierungen. Wenn man den Deckel öffnet, kommt eine kleine, goldene Balerina zum Vorschein.

Wie konnte ich diese Spieldose nur vergessen?

Als ich noch klein war, war ich fasziniert davon, wie die kleine Ballerina zur Musik ihre Pirouetten drehte.

Mama hat diese Spieldose geliebt...

Doch als Mama so krank wurde, verschwand die Spieldose.

Ich glaube, dass du sie versteckt hast, um nicht an Mamas gesunde Zeiten erinnert zu werden.

Genauso hast du alles andere verschlossen.

Als Mama nach Ewigkeiten wieder aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war ich überglücklich. Ich dachte, es wäre alles wieder gut.

Doch das Gegenteil war der Fall. Die Ärzte hatten sie aufgegeben.

SIe kam nach Hause, um zu sterben.

Ich weiß noch, wie ich mich nachts immer zu ihr schlich. Jede Nacht legte ich mich neben sie und hielt ihre Hand. Ganz nah kuschelte ich mich an sie heran und lauschte ihrem schweren Atem. Manchmal, da drückte sie mich ganz sachte. Irgendwann schlief ich dann ein. Morgens wachte ich dann immer wieder in meinem eigenen Bett auf. Du musst mich dort hin getragen haben.

Ich weiß noch, ich war ein ziemlicher Frühaufsteher. Sobald ich wach war, meistens war es da noch sehr früh, so fünf oder sechs Uhr morgens, schlich ich mich wieder zu Mama.

Doch an jenem Morgen im Oktober war alles anders.

Ich spürte es sofort.

Das Haus war kalt.

Schwerfällig stand ich auf und tappte zur Tür. Ich konnte Stimmen hören. Deine Stimme, und ebenso die eines Arztes.

Ich öffnete meine Tür einen kleinen Spalt breit. Nur so weit, dass ich meinen Kopf hindurch stecken konnte.

Ich sah den Arzt, wie er seine schwarze Arzttasche fest umklammerte und dir mit der anderen Hand mitfühlend auf die Schulter klopfte.

Als du mich bemerktest, kamst du langsam auf mich zu.

Doch du brauchtest nicht mehr zu sagen.

Ich sah es in deinen Augen. Sie waren so leer, sie suchten Halt.

"Kleines... Mama ist...", deine Stimme versagte.

Etwas in mir zerbrach.

Ich warf mich in deine Arme und weinte.

Unsere Familie war noch nie besonders religiös, aber ich wünschte mir in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als dass es wirklich und wahrhaftig einen Himmel gab.

Dass Mama dort oben auf den wolken tanzte, lebhaft wie sie war.  Dass sie lächelte und glücklich war.

Ich wollte auf jeden Fall die Bilder der Realität verdrängen. Mamas toten Körper, wie er so leblos auf dem Bett lag.

Wie nur noch ein Haufen Asche von ihr übrig war, der in einer Urne begraben werden würde.

Noch einmal nahmst du mich in den Arm und drücktest mich ganz fest an dich, doch danach wandtest du dich von mir ab.

Ich fühlte mich, als wäre ich in ein bodenloses Loch gefallen und fiele immer weiter in die Tiefe, ohne auch nur jemals zu stoppen.

Auch in den folgenden Jahren änderte sich daran nichts.

Du hast zwar alles für mich getan, so dass mir an nichts fehlte, aber geredet hast du nie mit mir darüber.

Es war, als wären wir ein Bündnis des Schweigens eingegangen.

Ich glaube, du bist mit Mama gestorben.

Ebenso ein Teil von mir. Ich vermisse ihre Warmherzigkeit, ihre lebhafte Art, ihr Lachen. Fast immer, wenn sie mich sah, streichelte sie meinen Arm, meine Wange, meine Haare. Sie lächelte mich an  und sagte mir immer wieder, wie lieb sie mich doch habe.

 

Der Makler würde jeden Augenblick da sein. Er hat mir geholfen, das Haus zu verkaufen. Ich wollte unbedingt, dass eine Familie hier einzieht.

Ich war hier glücklich als Kind.

Ich weiß noch genau, ich muss so fünf Jahre alt gewesen sein, als du in mein Zimmer kamst und so etwas sagtest wie:" Ich habe eine Überraschung für dich."

Du gingst mir mir hinunter in den Garten und präsentiertest mir stolz deine selbstgebaute Baumschaukel. Ich hatte mich reisig gefreut. Du musstest mir Anschwung geben.

Mama stand, vor Freude strahlend, an Rande der Terasse und klatschte in die Hände.

Immer weiter schwang ich in die Höhe und ich hatte das Gefühl, mit meinen Füßen den Himmel berühren zu können.

Zu dieser Zeit lag noch kein Schatten über uns. 

 

Du hast mir genug Geld hinterlassen, um die Beerdigung zahlen zu können.

Du liegst neben Mama und ich hoffe, du hast deinen Frieden gefunden.

Die Polizei geht von einem Unfall aus. Die Dämmerung hatte schon eingesetzt und es regnete stark. Du bist von der Straße abgekommen und gegen einen Baum gekracht.

Wirklich, Papa?

Willst du wissen, was ich glaube?

Ich glaube, es war deine volle Absicht, aber das habe ich niemandem erzählt.

Du warst bestimmt sicher, ich wäre jetzt alt genug, versorgt und du könnstest endlich gehen.

Nächsten Monat beginne ich mein Studium und ziehe in eine WG. Momentan ertrage ich es nicht, alleine zu sein.

 

Ich hätte dir gerne noch so viel mehr gesagt, aber das geht nun nicht mehr.

 

Danke Papa. Für alles. Ich weiß. du hast es gut gemeint.

Es war sicher nicht leicht, mit dem Tod deiner geliebten Ehefrau fertig zu werden - und mit deiner damals zwölfjährigen Tochter.

Aber irgendwie hast du es geschafft.

Irgendwie haben wir es geschafft.

 

Ich schaue durch das Küchenfenster in den Garten. Die Schaukel wiegt sanft im Wind.

Es wir bald Herbst. Danach folgt ein weiteres, unerträgliches Weihnachten. Ich werde es ignorieren, so gut es geht.

 

Lebe wohl, Papa.

Und gib Mama einen Kuss von mir.

 

Deine Mia.